Viel Stoff hat sich Jeremy Tiang mit seinem Singapur-Roman Das Gewicht der Zeit vorgenommen. Die zumindest mir unbekannte Geschichte des heutigen Stadtstaates über die Kommunistenverfolgungen in den 50er-Jahren erzählt er aus der Perspektive von sechs Personen.
Eine Frau lässt ihren Mann mit zwei kleinen Kindern zurück: „War sie voller Angst oder gelassen, als sie aufblickte und die Welt um sie herum plötzlich einstürzte“?, fragte sich viele Jahre später ihr Mann. Sie musste in den malayischen Dschungel fliehen, weil ihr sonst eine erneute Verhaftung durch die Operation Coldstore – „als würde man die Gefangenen gewissermaßen in Kühltruhen lagern, bis sie ungefährlich waren“ – und eine lange Gefängnisstrafe gedroht hätte; wie auch anderen, die sich damals – als die halbe Welt die Kommunistengefahr heraufbeschwörte – politisch engagierten und demonstrierten. Doch als sie später Briefe nach Hause schreibt, unterschlägt ihr Mann diese, und noch später, als die Tochter die Briefe in die Hände bekommt, rufen sie keine sonderliche Resonanz hervor. Dies gehört zur eigenartigen Unterkühlung dieses Romans. Der Tochter ist das zweite Kapitel gewidmet, doch erst der Sohn Henry, der nach dem Tod des Vaters aus London anreist, lüftet das Geheimnis um die Existenz der Mutter als bekannte Guerilla-Kämpfern.
Während Suharto, mit Unterstützung der USA und wegen des Vorwurfs kommunistischer Unterwanderung, Chinesen verfolgen lässt – was im größten Massenmord in der Geschichte Indonesiens endete –, gerät man auch in Singapur schnell in den Bannstrahl der Regierung. Stella, die Nichte der Geflohenen, wehrt sich gegen die Diskriminierung ausländischer Dienstmädchen, wird verhaftet und verwirkt damit ihr gesellschaftliches Leben.
Viel ist von Einsamkeit, Entfremdung, Verrat und Verdrängung die Rede, bisweilen greift ein auktorialer Erzähler ein, um die Geschehnisse ein wenig zu ordnen. Meistens ist das lehrreich, denn die Protagonisten tragen viel Gewicht durch ihr Leben und Informationen auf ihren Schultern, das sie – auch erzählerisch – mitunter zu erdrücken droht. Henry und die Journalistin Revathi wirken indes recht authentisch und lebendig, wenn sie der Vergangenheit auf die Spur kommen. Revathi, selbst Malayin, schreibt über die Dschungeldörfer der Guerilla und Massaker: „Man könne sich nicht vorstellen, welche Verbrechen die Briten verübt haben – mit der Begründung, sie wollten den kommunistischen Banditen das Handwerk legen. Wäre ein ziemlicher Skandal, wenn das rauskäme.“
Scharf kritisiert der Autor das paternalistische System, das Dankbarkeit von seinen Untertanen verlangte, „doch was war das anderes als Selbstgefälligkeit und Stillhalten?“, und die Verfolgung der Linken. Es ist das Verdienst von Jeremy Tiang, Licht ins Dunkel dieser Stadtgeschichte zu bringen, die in der Literatur bislang so noch nie erzählt wurde.
Jeremy Tiang: Das Gewicht der Zeit. Aus dem Englischen von Susann Urban. Residenz-Verlag, 2020, 302 Seiten