Scham – oh weh?

Ein Scham-O-Mat als Erinnerungsarchiv

Die Idee und Installation ist bestrickend: In einer Kabine sitzen sich zwei gegenüber, corona-bedingt getrennt durch eine Scheibe, und lesen sich Scham-Geschichten vor. Aber keine fiktiven, sondern Texte, die im Laufe von Monaten in verschiedenen Kulturkreisen (Russland, Pakistan, Schweiz) gesammelt wurden. Weil mich diese Geschichten unentwegt beschäftigten, traf ich mich mit Trixa Arnold – der Co-Initiatorin – zu einer kleinen Schifffahrt über den Zürichsee zu einem Gespräch.

Ausgangspunkt für die Entwicklung des Scham-O-Maten war die Theaterbühne, so Trixa Arnold. Ihr Mann, Co-Initiator und Schauspieler Ilja Komarov, hat ein Programm rund um das Thema Scham konzipiert. Nach der Vorstellung erzählten Zuschauer von eigenen beschämenden Erlebnissen.

Die Texte für die Installation erhielten die beiden über die Scham-O-Maten, Kabinen, die mit einem Aufnahmegerät und einem Briefkasten ausgerüstet waren und an diversen Orten aufgestellt wurden. Es gab leichte und lustige Geschichten, aber auch „schwere“ über Missbrauch und Gewalt. Überarbeitet wurden die eingereichten Texte nur wenig, Trixa Arnold wollte sich auf jeden Fall an den Duktus halten, die Texte keinesfalls überschreiben. Sie wurden verdichtet, Redundanzen gestrichen, ins Präsenz gesetzt. Manchmal gab es Lücken in den Texten, und je schwerer die „Fälle“ waren, desto umständlicher wurde erzählt, gelegentlich in die 3. Person gewechselt.

Verblüffend klar treten die Kategorien der Scham zu Tage: die schichtspezifische Scham, der Klassimus, sich aufgrund der finanziellen Situation etwas nicht leisten können, Armut. Die körperliche Scham – in manchen Kulturkreisen rufen beispielsweise Schamhaare angewiderte Empörungsrufe hervor -, die erste Monatsblutung. Und die Scham aufgrund der Ohnmacht in einem Machtgefälle, dem man ausgeliefert ist.

Ein weiterer überraschender Aspekt ist die Einsicht, dass nicht nur Opfer Scham empfinden, sondern auch Täter, sie schämen sich für ihre Tat. Oder es gibt eine Fremdscham, man schämt sich für die Eltern, für die Freundin.

Wie nah Schuld und Scham beieinander liegen, ist ein Gedanke, der sich wie viele andere nach dem Besuch des Scham-O-Maten weiterspinnt. Es gibt durchaus eine Schnittmenge, sagt Trixa Arnold. „Es ist befreiend, von einem beschämenden Ereignis zu erzählen, selbst wenn der Scham-O-Mat kein Beichtstuhl ist.“

Auch zwischen Scham und Schande gibt es Berührungspunkte: Der gesellschaftliche Kontext bestimmt, was Schande ist, man wird von den anderen beschämt, die Scham wiederum wirft einen auf sich selbst zurück. Scham, so Trixa Arnold, könne gleichwohl auch ein Schutz vor Blamage sein, vor gesellschaftlicher Ächtung. So wurden uneheliche Kinder jungen Mädchen oft als Schande vor Augen geführt, um sie vor diesem beschämenden Schritt zu bewahren.

Für mich war der Scham-O-Mat eine unerwartete Möglichkeit, einen besseren Einblick in dieses komplexe und vielschichtige Thema zu bekommen, zu lesen und hören, worüber und warum Menschen sich schämen. Das mag banal klingen, und banal empfanden vielleicht manche Besucher:innen diese Installation, weil sie die Geschichten zu kennen glaubten. Andere wiederum erzählten sich endlich die eigene Scham vom Leib, wurden sie damit ein für allemal los.

Spannend wird die Scham dort, wo sie Potenzial freilegt. So erzählt Miriam Davoudvandi in der WOZ, dass sie die Ausgrenzung nicht etwa wegen ihrer Ethnie oder ihres Körpers so stark empfunden habe, sondern wegen des sozialen Milieus. Ob daraus eine Wut entstanden sei? „Wir hatten nicht das Privileg, wütend zu sein. Meine Eltern wussten, wenn sie aufmüpfig sind, könnten sie ihre Arbeit verlieren. Daran war ihre nackte Existenz geknüpft. (…) Ich selbst fühle immer auch Wut gegenüber den Realitäten unserer Welt. Aber manchmal fühlt sich auch das nach einem Privileg an.“

Solche Beschämungen können also Wut hervorbringen, Trotz und Stolz, könnten dazu führen, mehr Gerechtigkeit einzufordern, um unfaire Verhältnisse nicht weiter zu begünstigen, die beschämend sind. Dann wäre Scham nicht mehr länger nur ein Gefühl, das bestenfalls in die Privatsphäre abgedrängt wird.

Die Gedanken rund um Scham erhellen jedenfalls einige dunkle Schatten in uns und in der Gesellschaft, führen vor, wie beschämende Gefühle perpetuiert werden – und so gehen die Schamgeschichten in eine neue Runde: Ab dem 3. November 2021 gehen die Schamgeschichten als Performance „Schäm Dich!“ auf Tournee, zuerst in der Helferei Zürich, im Frühjahr 2022 im Theater der Roten Fabrik.

Genauere Termine sind auf der Homepage schaemdi.ch nachzulesen.