Eine Lektürenotiz
Eine Expedition macht sich auf, im tibetischen Hochland den Yeti zu finden. Besuch in einem Lepradorf. Chinesische Abenteurer, die das Fremde und Exotische im eigenen Land suchen. Postmoderne und Künstlermilieu in Lhasa in den 80er Jahren: Das ist der Stoff, aus dem die Erzählungen in Drei Arten, Papierdrachen zu falten von Ma Yuan sind
„Wenn Leute aus dem Kernland nach Tibet kommen oder Ausländer hierher reisen, dann erscheint ihnen nach der Ankunft zunächst alles frisch und neu: wie die Tibeter Kotaus machen und ihre Gebetsrunden drehen, wie sie in den Tempeln Yakbutter und Geld opfern; die kleinen Händler auf dem Barkhor und die Betenden, die ihre Sutras rezitieren; die Steinmetze am Fuß des Potala-Berges; die buddhistischen Sutras in Steinplatten meißeln, und die in den Fels gehauenen Götterfiguren […] Die Neuankömmlinge schauen sich alles an und machen mit ernster Miene Fotos […] Aber das Entscheidende ist, dass es sich überhaupt nicht um etwas Neues und Frisches handelt, denn die Leute hier leben schon seit vielen tausend Jahren so. Wenn die Dinge den Außenstehenden neu und frisch erscheinen, dann liegt das bloß daran, dass sich das Leben hier so stark von ihrem eigenen unterscheidet.“
Doch wie schnell nutzt sich das Neue, das Exotische ab, wenn Neuankömmlinge oder, wie in diesem Erzählband, han-chinesische Intellektuelle auf der Suche nach dem ultimativen Kick durch Tibet reisen? So wie die Freunde in „Die Verlockungen von Gangdise“, die einer tibetischen Himmelsbestattung beiwohnen wollen, obwohl sie genau wissen, dass sie damit ein Tabu brechen – ähnlich wie die Touristen aus Hongkong, die zeitgleich zur verbotenen Himmelbestattung reisen möchten.
Allen Texten gemein ist das postmoderne Verwirrspiel zwischen Wahrheit und Lüge, so die Herausgeberin und Übersetzerin Julia Veihelmann. Mal widersprechen sich die Figuren, die Figuren der Handlung, Zeitebenen verwirren sich und löschen sich gegenseitig aus, denn was ist schon gestern, heute und morgen? So hyperrealistisch die Erzählungen aufgrund einer verblüffenden Detailtreue wirken, so führt der Erzähler damit doch nur auf eine falsche Fährte und mokiert sich über die politischen Gegebenheiten, denn was Machthaber uns weiß machen wollen, ist noch längst nicht Weiß, wer Wahrheiten vortäuscht, muss mit Entlarvung rechnen. Dieses Lektürespiel ist erfrischend, wenngleich gewagt, denn nicht immer ist Ma Yuans postmodernes Vexierspiel verständlich, das zwischen Maoismus und Kommerzialisierung, einem kleinen Zeitfenster in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, möglich war. Davon zeugt auch der Erzählband An den Lederriemen geknotete Seele
So sitzt Ma Yuan, selbst ein han-chinesischer Intellektueller aus dem fernen Nordosten Chinas, der Provinz Liaoning, zwar zwischen den Stühlen, spielt dieses Dazwischen indes literarisch raffiniert durch. In Lhasa, Hauptstadt Tibets, versammelten sich in den 80er Jahren etliche han-chinesische Intellektuelle, zum einen waren sie der eigenen nach-kulturrevolutionären und noch immer oder wieder konfuzianisch geprägten Gesellschaft überdrüssig, zum anderen faszinierten sie die fremden und, aus ihrer Sicht, rohen Bräuche. Sie wussten wenig über Tibet, was sich vor allem in den Kunstproduktionen jener Zeit zeigt: verkitschte Darstellungen von Tibetern, die im Schneesturm nach ihren Yaks suchen, freizügige Tibeterinnen, Wildheit und Schroffheit auf die Leinwand gebannt und abgereist. Doch bis heute stehen sich die chinesische Besatzermacht und tibetische Bevölkerung gegenüber, mal mehr, mal weniger versöhnlich. Was die Figuren in Ma Yuans Erzählungen auch unternehmen, dazu gehören sie nie.
Ma Yuan: Drei Arten, Papierdrachen zu falten. Aus dem Chinesischen von Julia Veihelmann. 340 Seiten, Arco-Verlag
Eine weitere Erzählung, „Himalaya-Ballade“, von Ma Yuan ist in dem Erzählband Himalaya fürs Handgepäck zu lesen.