Gastbeitrag von Anne Webert
Was Wassermarionetten, Kegelhüte und Affenbrücken mit Berlin und der ehemaligen DDR zu tun haben? Im Debüt von Karin Kalisa kommen sie unerwartet zusammen und verhelfen dem Prenzlauer Berg zu vietnamesischen Momenten. Die Autorin verknüpft lauter kleine Geschichten zu einem farben-formen-frohem Ganzen. Es ist ein wenig wie im Straßencafé zu sitzen und die vorbeiziehenden Menschen zu beobachten. Jeder ist in seiner eigenen Welt, und alle zusammen machen das Leben bunt. Manche huschen kurz vorbei, andere tauchen immer wieder auf oder bleiben irgendwo stehen.
Eigentlich ist es eine Familiengeschichte über mehrere Generationen oder aber auch die Geschichte des Prenzlauer Bergs im Wandel der Zeit. Politisch und gesellschaftlich. Ausgangspunkt ist eine kurzfristig anberaumte „weltoffene Woche“ in einer Schule – in der eh völlig überfüllten Vorweihnachtszeit. Was zunächst alle nervt, entwickelt sich dank des Tanzes einer traditionellen vietnamesischen Wassermarionette in einen vorsichtigen Blick über den Tellerrand. Plötzlich sehen sich die Menschen, die hier schon lange nebeneinander leben. Der Laden von Sung ist dabei das Zentrum – wie in einem Tornado, der die Geschichte in Bewegung setzt.
Als „Bootsflüchtlinge“ gelangten Südvietnamesen auf der Flucht vor dem Kommunismus in den 1970er Jahren in die Bundesrepublik und erhielten Unterstützung und eine neue Heimat. Die „Vertragsarbeiter“ aus Nordvietnam kamen etwa 10 Jahre später in die kommunistische Schwesterrepublik DDR, um dort zu arbeiten. Sie bildeten mit etwa 60.000 damals die größte ausländische Gruppe.
Zu ihnen gehören im Roman Hiên und Gam, die sich in der Fremde ineinander verlieben und eine Familie gründen. Als Hiên schwanger wird, hat sie die Wahl zwischen Abtreibung oder Rückkehr in die Heimat. Erst ihr zweites Kind Sung wird einige Jahre später in Deutschland geboren, seine ältere Schwester wächst in Vietnam auf.
Ein Antiquar bewahrt in den Tiefen seines Lagers wunderbare Bücher aus Vietnam und ist damit anderen Buchhändlern des Viertels um eine Nasenlänge voraus – denn bis auf ein paar Reiseführer gibt der aktuelle Markt in diesem unerwarteten Berliner Sommer des Romans nichts her. Die Lektüre dieser Bücher drehen das Leben eines Standesbeamten, der sich in die Schrift verliebt, auf den Kopf.
Mir war nicht bewusst, wie schön vietnamesische Schriftzeichen sind. Und darauf aufmerksam wurde ich eigentlich nur, weil Karin Kalisa es explizit beschreibt. Denn, so habe ich inzwischen gelernt – die aktuelle vietnamesische Schrift beruht nicht mehr auf chinesischen, sondern auf lateinischen Schriftzeichen – verziert mit allerlei Strichen, sogenannten „diakritischen Zeichen“. Diese verwandeln die tonlosen Buchstaben in die sechs Tonhöhen des Vietnamesischen.
Eines der Werke über die frau in diesem Antiquariat stolpert (und das Lust zum Weiterlesen weckt), ist der Epos „Das Mädchen Kiều„.
„Er schlug das vietnamesische Taschenbuch in der Mitte auf, bewunderte wieder die mit Punkten, Strichen, Häkchen umwickelten, vertrauten und doch so fremdartigen Buchstaben…“ […]“Das Nibelungenlied der Vietnamesen. Nur schöner. Ein Nationalepos in 3254 Versen, nachgedichtet in deutschen Jamben, angefertigt in nahezu sieben Jahren Arbeit von einem sprachbegabten Ehepaar.“
Die behutsame Übersetzung von Irene und Franz Faber wird von Claudia Borchers vortrefflich illustriert.
Ein wenig ist der Roman wie „unsere kleine Farm“ in Berlin. Eine Geschichte, in der sich alles zum Guten wendet, Liebe und Toleranz am Ende gewinnen. Aber da Karin Kalisa die Probleme nicht verschweigt, die Lösungen nicht auf der Hand liegen, sondern charmante Umwege nutzen, sehe ich in Sungs Laden eher ein modernes Märchen, und da darf schließlich alles gut enden.
Also: eine absolute Leseempfehlung – gerade in trüben Zeiten.
Karin Kalisa: Sungs Laden. Droemer-Knaur-Verlag, Taschenbuch, 256 Seiten