Soziales Trainingscamp

1236_01_SU_Sitzler_Geschwister.inddNur schon der Umschlag spricht Bände, denn die beiden Halbprofile sind geprägt – und prägend sind „Geschwister“. Nur anders wie bei Freundschaften werden einem Geschwisterbeziehungen aufgezwungen. Und deshalb bergen sie auch so viel Konfliktpotenzial. So vergleicht die Journalistin Susann Sitzler in ihrem Buch Geschwister diese Beziehung treffend mit einem sozialen Trainingscamp. „Lernt man mit Geschwistern, wie man teilt? Nicht nur. Man lernt mit ihnen vor allem, was man tun muss, um möglichst nicht teilen zu müssen.“ Mit den Geschwistern spielt man sich warm, sie sind wie der Sparringpartner, danach kommt man aufs Feld. Die Eltern allerdings sollten sich darum kümmern, dass es in diesem Trainingscamp fair zugeht. Sonst würden die einmal geschlagenen Wunden wie ein fauler Zahn ein Leben lang schwären. So manche Rechnung bleibt dann offen, die man später im Leben mit noch härteren Bandagen begleicht. Denn „das, was von ihnen in uns eingewoben ist, arbeitet weiter.“

Das Konfliktfeld Geschwisterbeziehung ist ein weites, die Gedanken der Autorin zu diesem Thema sind kurzweilig zu lesen und informativ: Fakten veranschaulicht Susan Sitzler mit eigenen Erfahrungen, und da kann sie wahrlich aus dem Vollen schöpfen mit einer „echten“ Schwester, Stiefbrüdern und Halbgeschwistern.

Doch die Autorin verharrt nicht etwa bei den Konflikten, sondern – und das merkt man bei der Lektüre – hat sich selbst aus diesem Knäuel ungeklärter Geschwisterbeziehungen herausgearbeitet und ist froh um diese Erfahrung. Damit Geschwisterbeziehungen eine Chance haben, so Sitzler, müsse man die Rollenmuster aus der Kindheit ablegen. Einfach sei das keineswegs, denn es gebe Rituale und Verhaltensweisen, die man nur in einer Geschwisterbeziehung auslebe. „Wie ein Radar ist das Geschwister, das ein Signal aussendet, auf das wir reagieren und das uns in ein früheres Wesen verwandelt.“ Wie also aus diesem negativen Energiefeld ausbrechen?

Glücklicherweise hält sich Susann Sitzler mit allzu vielen und aufdringlichen Ratschlägen zurück, sie denkt lieber laut nach und zitiert aus Studien, aus Romanen und Filmen. Nur hier und da streut sie wohl dosiert Tipps ein: Es im Alter auch einmal dabei belassen können, die schmutzige Wäsche bei Familienfesten im Koffer zu lassen. Zu üben, nicht jedes Mal in die Luft zu gehen, wenn jemand bestimmte Knöpfe bei einem drückt. Schließlich kenne keiner diese Knöpfe so gut wie ein Bruder oder eine Schwester. Die Fähigkeit, Impulse in Schach zu halten und dafür zu sorgen, dass diese nicht ungefiltert in die Verhaltensweisen einfließen. Man sei immerhin erwachsen geworden und könne zwischen Entscheiden und Automatismus wählen: Warum einem Impuls das Steuer überlassen?

„Geschwister heißt, dass man zusammengehört, ohne sich lieben zu müssen. Gelernt zu haben, wie das geht, kann im Leben von unschätzbarem Vorteil sein“, könnte das Fazit dieses klugen Berichts lauten, der noch weitere Themen aufgreift wie das erwiesenermaßen unnötig problematisierte Einzelkindphänomen, die Bedeutung der Geschwisterbeziehung für die Migration und in anderen Kulturen sowie den Zusammenhang zwischen Burnout und unverarbeiteten Geschwisterkonflikten.

Susan Sitzler: Geschwister. 352 Seiten, Klett-Cotta, 2014.