Für alle, die unter Schüchternheit leiden

Dieses Palimpsest ist entstanden aus verschiedenen Textanfängen und Sätzen, über denen wir beim 3. Über-Kreuz-Workshop für Übersetzer und Lektoren von Kinder- und Jugendbuchliteratur gebrütet haben. Vermutlich werden nur die TeilnehmerInnen dieses Workshops den „tieferen Sinn“ dahinter verstehen und sich amüsisieren, aber sei’s drum. So viel Text-Recycling, Überschreiben und durch den Textwolfdrehen muss einfach sein.

Am frühen Morgen hatte ich die Luft knistern hören. Eine Nacht war vom Erdboden verschwunden. Der Wind heulte geisterhaft in den Bäumen, geheimnisvoll nah. Die plötzliche Kälte an meinem Rücken ließ mich zittern. Tief in meinem Innersten fühlte ich mich schwach und krank. Jemand kratzte an der Fensterscheibe. Was waren denn das für schräge Töne? Schritt, Schritt, Schritt, knarz, knarz, knarz. Ich erschauderte. Das Kratzen kam und ging mit dem Wind.

Ich schnupperte nach einem Geruch, einer Spur. Toblerone, ein metallischer Geruch von Blut, viele Mikroskope von hier entfernt, purer Mord für die Lungen. Es war die Gestalt im Abgrund, ein Gott mit einem Riss in der Hose, bespannt mit einem großen Segeltuch. Er musterte mich unverhohlen, dann grinste er breit und flirtbereit: „Willst du’n Kaugummi? Frisch gepflückt!“ Das Gesicht eines Gentlemans, vielleicht ist es ein netter Mensch. Schade, dass du nach Fisch stinkst, dachte ich. Eine Eule rief unheimlich „huhuu“.

Kaugummi? Es fühlte sich zu viel an und gleichzeitig nicht genug. „Wie bitte? Ich bin doch kein Wal“, schnauzte ich. „Ach so“, sagte er dümmlich. Ich trat gegen die Glaswand, aber die tat keinen Mucks. Noch nie war ich in meinem Leben so hungrig gewesen. „Essen ohne Giftköder, Lippenstift, Rouge, Wimperntusche, Nagellack und Scheißminischokoeier!“, brüllte ich. „Ne echte Sahneschnitte? Erdbeer! Deine Lieblingssorte! Und Pommes sind auch noch da!“, flüsterte er.

Ich wanderte mit dem Finger über seinen Bauch und spielte ein wenig an seinem Bauchnabel. Sein Kopf war schon ganz dick und rot. Seine Schnurrhaare zitterten. Ich ließ mich auf der Bettkante nieder, kleine Maus im rosa Nachthemd. Seine Zunge teilte meine Lippen, drückte den Kiefer der Frau auseinander. Ich habe meinen Mund für ihn geöffnet, ihn geschmeckt. Ich tat es, obwohl mir davon schlecht wurde, Ruß und Magensäure im Mund. „Das war jetzt aber etwas mehr als ein Kuss“, kicherte ich. „Ach so“, sagte er dümmlich.

Wir legten uns zueinander gewandt aufs Bett, das eigentlich eher eine große Holzkiste war. Überall lagen Muffinkrümel. Sieh mich an, sieh mich an, sieh mich an. Seine großen Augen waren starr und flehend. Langsam glitt meine Hand in seinen Slip. Schwacher Rauch ringelte aus dem Schornstein, zäh wie gerinnendes Blut. „Spürst du, dass da so etwas wie ein kleiner Knopf ist?“, flüsterte er. Es fühlte sich an, als wäre all sein Blut plötzlich in seine Hose geschossen. Mein lieber Scholli, nicht mal für ein eigenes Spiegelbild bist du groß genug, dachte ich. Ich rückte ihn ein bisschen nach rechts. Rückte ihn ein bisschen nach links. Dann grinste er mich an, superzufrieden mit sich selbst. Als ich mich ein Stück auf ihn zubewegte, glitt sein Mittelfinger in mich hinein, in mein tiefstes Inneres. (Wie ein Wurm, dachte ich noch, wie ein widerlicher kleiner Wurm.) Ich holte mein Klappmesser aus der Hosentasche und schlitzte den Stoff mit zwei schnellen Bewegungen auf, böses Schneewittchen. In seinem Blick dämmerte Verständnis: Großer Gott, hast du nun wieder vor? Ich arbeitete präzise, aber auch nicht gerade phänomenal, mit einer Effizienz, die eine geübte Hand verriet. Im Schritt. Und dann schrie er, lauthals, durchs ganze Labor.

Ich legte einen Finger auf seinen Mund. Er kaute auf seiner Unterlippe, drückte ein paar Tränen hervor. Die Tränen fielen von der kleinen, schiefen Kuhle an seiner Nase auf seinen schiefen Hals, aufgeschürft, rau und pink. Seine Haut wurde goldgelb. Ich legte die Fingerspitzen an seine Kehle, er fühlte sich tot an. Gerade gefallen. Ich bellte den Wachen den Befehl zu, den Leichnam zu holen: „Hopp! Toter Mann!“ Wachemann Eins, Führungskraft der Polizei, rollte ihn auf den Platz hinaus, am Waldrand lag eine kleine Polizeistation.

Das wuschige Gefühl ebbte allmählich ab. Die Sterne bewegten sich über mir. Mitunter ertönte ein Geläut von tausend Silberglöckchen, zarter als Luftblasen. Ka-Dunk! Ich merkte, dass ich immer noch seinen Penis in der Hand hielt.

Zusammengestellt von Thomas Weiler. in memoriam Looren Über Kreuz, 7.-11. April 2017