„Sie haben nie vergessen, sie haben nie gewusst.“

Ein ganzer Monat verschwindet aus dem kollektiven Gedächtnis Chinas

Befrage man heute junge Menschen in China, was sich im Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens zugetragen habe, ernte man nur Achselzucken, berichten westliche Journalisten. Wie kann es sein, dass ein, zwei Generationen dieses Ereignis vergessen oder aus praktischen und politischen Gründen verdrängt haben? Möglicherweise war es diese Überlegung, die den Hongkonger Autor Chan Koonchung umtrieb. In seinem Roman Die fetten Jahre wehrt sich eine kleine Gruppierung gegen diese kollektive Amnesie. Ausgerechnet Asthmatiker erinnern sich an DEN bestimmten Monat, da sie Medikamente einnehmen, die immun machen gegen die Vergesslichkeit. Das Volk aber ist hyperglücklich, denn nachdem die Menschen viele Jahre unter Aufständen, Plünderungen und Lebensmittelknappheit litten, liess die Volksbefreiungsarmee alle unbotmässigen Aufrührer verhaften und versetzte das Trinkwasser mit einer Chemikalie, die die Menschen euphorisiert und unangenehme Erinnerungen löscht. Gleichzeitig tilgte die Regierung alle Spuren von jenen Chaostagen im Internet und in den Archiven. Ja, der Roman spielt im Jahr 2013, in einer sehr nahen Zukunft, und nähere sich der Realität immer mehr an, so der Autor. Und je länger die Partei herrsche, desto öfter müsse sie Löschaktionen im kollektiven Bewusstsein durchführen, stellte der Autor fest, als er im Jahr 2000 nach Peking zog. Neubewertungen der Kulturrevolution, der Unruhen auf dem Platz des Himmlischen Friedens, der Tibet- und Taiwan-Frage seien unmöglich.

Doch zurück zum Roman: Chen, wohl das Alter Ego des Autors, begegnet zwei alten Bekannten, die schon vor vielen Jahren zu einer Gruppe Andersdenkender gehörten und im Verborgenen leben. Xiaoxi ist geistig verwirrt und wittert überall Gefahr; doch die droht ihr am ehesten vom eigenen Sohn, einem chauvinistischen und nationalistischen Politikstudenten. Es ist die Liebe, die Chen einst für Xiaoxi verspürte, weshalb er gemeinsame Sache mit dem versprengten Grüppchen macht. Denn sie können und wollen sich nicht damit abfinden, dass sich das chinesische Volk mit einem Status quo zufrieden gibt, obwohl die politische Lage ihrer Meinung nach so schlecht war wie nie zuvor. China ist mittlerweile zwar Wirtschaftsmacht Nr. 1, und um die Wirtschaft anzukurbeln, werden die Einheimischen zum Konsum gezwungen. Kanada, Australien und Neuseeland – die neuen Drittweltländer – versorgen China mit wichtigen Gütern, derweil sie von China Fertigprodukte kaufen. Und der Yuan ist anerkannte Handelswährung. Xiaoxi und Chen haben dies zwar beobachtet, können sich aber die Zusammenhänge nicht wirklich erklären, weshalb sie kurzerhand beschliessen, einen sogenannten Reformpolitiker zu entführen. Ein kruder Plot, zugegeben, doch das Entführungsopfer erklärt China auf eine Weise, die es in sich hat: 90 Prozent Freiheit seien garantiert, und für den Rest interessiere sich ohnehin niemand. In bescheidenem Wohlstand sei die Angst des Menschen vor dem Chaos schliesslich grösser als vor der Diktatur. China sei auf dem Zenith, besser könne es nicht mehr werden, und Demokratie führe nur zu Chaos: Es lebe die „sino-faschistische Autokratie“.

Was bleibt den Idealisten anderes übrig als die Flucht weg vom Machtzentrum Peking, hinunter in den Süden? Und prompt wird der Roman von der Aktualität eingeholt, denn einem anderen Autor, Liao Yiwu, gelang auf diese Weise tatsächlich die Flucht. In einem Interview konstatiert er: „Chinesen haben ein Gedächtnisvakuum, sie wollen nicht mehr zurückblicken. Sie wollen nach vorn schauen, das entspricht auch der Politik der Regierung. Man will das individuelle Gedächtnis der historischen Geschehnisse ausradieren, doch das geht nicht, wir wehren uns gegen diese Tendenzen.“ Die Zukunft hat also schon begonnen, und darin zeigt sich eben auch die Brisanz des Romans.

Chan Koonchung: Die fetten Jahre. Aus dem Chinesischen von Johannes Fiederling. Eichborn Verlag, 2011, 300 Seiten