Zwischen Üetliberg und Trümmerberg

Von Traditionen und ihrer Überwindung.

Gastbeitrag von Stephanie Esser.nachberlin_cover

Deutschland – Schweiz, speziell Berlin – Zürich. Erstere liegen geografisch nahe beieinander und sind sich doch so fern. Die Zweiten sind geografisch weit voneinander entfernt, sich aber vielleicht näher als man auf den ersten Blick meint.

Diese Polarität liegt auch Kaspar Schnetzlers Familiengeschichte zugrunde: Nach Berlin. Der Roman eines sehnsüchtigen Zürchers, der unter dem weiten preußischen Himmel traumwandelt und schließlich im Emmental gebodigt wird. Der Protagonist Wenzel Morgenthaler hat von seiner verstorbenen Mutter eine starke Sehnsucht nach dem Osten geerbt, von seinem Vater die Liebe zu Tradition und Ordnung. So ist es seit 300 Jahren in seiner Familie vorherbestimmt, dass die Morgenthaler-Männer im Alter von 67 Jahren sterben.

„Berlin lässt einen nicht los.“

Als Wenzel nach Berlin kommt, ist er allerdings noch weit entfernt von diesem Lebensjahr. Zuvor lebt er mit seinem Vater in einer Genossenschaftswohnung mit Blick auf den Zürichsee, begleitet ihn regelmäßig in die Kneipe Alt-Züri und unternimmt die obligaten Wanderungen auf den Zürcher Üetliberg. Bis sich der Germanistikstudent für ein Studienjahr in West-Berlin entscheidet. 1966 ist es, die Mauer steht, und der junge Schweizer findet Logis am Bülowbogen in einem möblierten Zimmer nebst ostpreußischer Wirtin, die ihm zu einer mütterlichen Freundin wird.
Hertha, die zweite Frau in seinem Berliner Leben, lädt ihn zu sich in ihre Grunewald-Villa ein, wo sie mit der Mutter lebt und an der bürgerlichen Etikette zu ersticken droht.
Wenzel und Hertha sind in der Tradition zu Hause und wollen ihr doch entkommen. Ohne Erfolg, wie es scheint. Nach einem Ausflug auf den Trümmerberg, bei dem Hertha ihm ihre Lebensgeschichte erzählt, flieht Wenzel vor der Wucht ihrer ostpreußischen Vergangenheit zurück nach Zürich. Hertha lässt sich von ihrer Mutter in eine Ehe drängen und wird eine Gräfin von Alvensleben.

„Tradition garantierte Schutz vor der widerwärtigen Gegenwart und Trutz gegen die drohende Zukunft.“

Wenzel lebt weiter mit dem Vater in der Zürcher Wohnung, beendet sein Studium und wird Privatdozent an der Universität. Doch er hat mit Berlin nicht abgeschlossen. Bald führt er einen Volkshochschulkurs auf den Spuren Fontanes nach Berlin. Bis nach Lübars geht die Erkundung, und nachdem Wenzel für seine Schüler sogar in die Rolle des Dichters geschlüpft ist, meint er sich des alten Muffs komplett entledigt zu haben.
Dann stirbt, traditionell im 67. Lebensjahr, sein Vater, und Wenzel wendet sich der Gegenwart zu, genauer: der Zürcher Gegenwartslyrik. Die Lehrveranstaltung, die er ins Leben ruft, trägt den altmodischen Namen Collegium Turicense Helveticum. Man beschäftigt sich mit dem Hier und Jetzt, aber im Mäntelchen der guten alten Tradition.
Ungewollt führt ihn sein neues Fachgebiet zurück zu Hertha, die ihm eine Einladung an die Ost-Berliner Humboldt-Universität vermittelt. Wieder ruft Berlin, und wieder folgt Wenzel diesem Ruf. Er reist ein in die DDR, hält eine Vorlesung, die den Parteigenossen schnell die Haare zu Berge stehen lässt, woraufhin das Kolloquium stillschweigend gestrichen wird. Dafür kommt Wenzel seiner Fremdenführerin näher und verstrickt sich in eine (Ost-)Berlin-Zürich-Beziehung.
Er lebt weiter in seiner beschaulichen und überschaubaren Stadt, reist jedoch regelmäßig in die DDR – bis die Mauer fällt und sein Traum von einem gemeinsamen Leben mit seiner Geliebten wahr werden könnte. Doch wieder ist Wenzel nur traumgewandelt. Jetzt, wo sich alles hin zu einer neuen Zeit geöffnet hat, bleibt er da, wo er schon immer war: in seiner Wohnung mit Blick auf den Zürichsee. Ohne Frau, in guter alter Tradition. Vorerst.

„Nach Berlin ist nichts anderes als vor Berlin.“

Nicht der Roman, aber dieser Text lässt offen, ob Wenzel sich seiner letzten Tradition, der Sterbetradition, ebenso hingibt wie allen anderen Traditionen seines Lebens. Fest steht allerdings, dass in diesem Roman Altes und Modernes, Leben und Sterben, Traditionen und Rituale, Nähe und Distanz eng miteinander verwoben sind, einander beeinflussen und bedingen – so wie Berlin und Zürich, die beiden Städte, die weit auseinander liegen und sich doch näher sind, als man auf den ersten Blick meint. Oder vielleicht auch nicht.

Kaspar Schnetzler: Nach Berlin. Der Roman eines sehnsüchtigen Zürchers, der unter dem weiten preußischen Himmel traumwandelt und schließlich im Emmental gebodigt wird. Bilgerverlag Zürich, 2012.

Stephanie Esser lebt als freie Texterin und Lektorin in Berlin (www.textschliff.de). Seit sie beim Diogenes Verlag in Zürich gearbeitet hat, ist sie regelmäßig zu Gast in der Stadt. Denn „nach Zürich ist nichts anderes als vor Zürich“. Diesen Text hat sie im Rahmen des Texttreff-Blogwichtelns geschrieben.