Wider das Vergessen

semsandberg

Warum hält niemand die Maschine auf? Denn wenn das Gesetz so beschaffen ist, dass es notwendigerweise aus dir den Arm des Unrechts an einem anderen macht, dann brich das Gesetz, forderte schon Thoreau. Diese Frage drängt sich erneut auf bei diesem Roman über „Die Erwählten“, die in einer Wiener Kinder- und Jugendpsychatrie qualvoll zu Tode kamen.

„Irgendwann muss doch mal Schluss sein“, hörte ich, wie einmal eine Frau zu einer anderen sagte und sich darüber beschwerte, dass sie im Urlaub in Norwegen als Deutsche so unwirsch behandelt worden sei.

Die Hauptfigur in Steve Sem-Sandbergs Roman Die Erwählten, Adrian Ziegler, könnte dem entgegenhalten: „Es gibt eine Art Vergessen, die nicht dasselbe ist wie sich nicht mehr zu erinnern, sondern es ist so, als sei das Gehirn verstummt.“ Bei ihm aber ist es noch schlimmer. Seine Zeit in Spielgrund, einer sogenannten Fürsorgeanstalt für kranke, behinderte und „nicht erziehbare“ Kinder und Jugendliche, die von 1940 bis 1945 medizinischen Versuchen ausgesetzt und gequält worden waren, muss er „wegamputieren“. Er war wie viele andere zwischen seinem 10. und 15. Lebensjahr Krankenschwestern und Ärzten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, da er Zigeunerblut in sich trug.

Über die (Mit-)Schuld von Ärzten und Krankenschwestern bei der Euthanasie vermeintlich unwerten Lebens wurde schon oft erzählt, gleichwohl erschüttert jedes Mal aufs Neue, wie dieses System funktionierte. So erzählt der Autor relativ nüchtern von kleinen seelischen Verwundungen, die in Abhängigkeiten führten. Die Krankenschwester Anna Katschenka zum Beispiel fühlte sich von ihrem ersten Gatten, einem Juden, so gedemütigt und vom Arzt Jekelius gerettet, dass sie fortan folgsam untertan agiert und abgehärtet ist gegen die Kinderschicksale, denen sie meistens frei von jeglicher Empathie gegenübersteht. Auch die Ärzte beugen sich mehr oder weniger gewissenhaft dem Beschluss, der aus Berlin kam – worauf sie sich später berufen konnten –, minderwertige Leben auszumerzen. Man hatte zu folgen, man versteckte sich hinter dem „man“ und einer Mauer aus Schweigen, die besorgte Eltern nicht durchbrechen konnten, selbst wenn sie gewollt hätten. Und manche haben es auch nicht einmal gewollt, waren froh, den Bastard, das Kind mit dem Wasserkopf, den schwer erziehbaren Adrian Ziegler endlich los zu sein, oder waren schlichtweg überfordert von der eigenen Lebenssituation. Abgeschobene Kinder also und welche, bei denen die Eltern meinten, im Spiegelgrund bestünde noch Hoffnung, von den Ärzten anfangs auch so vorgegaukelt, die nur wenig später den Totenschein ausstellten.

Der dänische Autor Steve Sem-Sandberg, der schwedischen Dokumentarliteratur verpflichtet, konzentriert und verdichtet die Geschichten von unzähligen Kinderschicksalen. Seine nüchterne Erzählweise verstärkt den Schrecken nur noch und auch die Empörung über so viel Ungerechtigkeit selbst den Überlebenden gegenüber: Als Adrian Ziegler später seinem Peiniger aus Spiegelgrund gegenübersitzt, sorgt der dafür, dass Adrian noch länger hinter Gitter bleiben muss als juristisch notwendig. Der andere aber, Dr. Gross, macht mit seinen Forschungsarbeiten an Kindergehirnen Karriere, ja wird als Koryphäe und von der Medizinwelt hofiert. Nur für seine Verbrechen kann er nicht belangt werden, denn als die erdrückenden Beweise endlich auf dem Tisch liegen, ist Dr. Gross aus Altergründen nicht mehr vernehmbar.

Klar könnte man entgegenhalten, über all das wurde doch schon so oder anders berichtet, wozu braucht es darüber wieder einen Roman? Und warum meint Aldo Keel in der NZZ, dass es eine „qualvolle, doch bitte notwendige Lektüre“ sei? Dieses System des Wegsehen, des Duckens, des Vergessens, des Mitmachens, der Karrierefixiertheit, so steht zu befürchten, wird nach wie vor befördert. Und deshalb sind solche Romane noch immer wichtig. Denn solange solche Charaktereigenschaften gefördert werden und Zivilcourage bestraft wird, ist noch lange nicht Schluss mit dem Vergessen, denn die Maschine läuft weiter.

Steve Sem-Sandberg: Die Erwählten. Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek, Klett-Cotta Verlag, 2015