Provinzprosa

Ein Logbuch.

Wozu notieren, was wie Eintagsfliegen neben Bundesstraßen und Autobahnen wuchert? Will man sich später wirklich daran erinnern? Immerhin: Kursbücher aus bestimmten Jahren sind gefragt, z.B. von 1913, das letzte Jahr des Friedens im alten Europa, 1946, als die Menschen aus den Ruinen krochen, so Klaus Schlögel in einem Essay über Kursbücher und Zivilisationsprotokolle. 2014 aber? Titelte nicht die ZEIT, die Sommermonate 2014 seien so katastrophal wie seit 70 Jahren nicht mehr? Flüchtlingsströme, Kriege, Okkupationen.

Kursbücher, so Schlögel weiter, seien nicht einfach Tabellen und Verzeichnisse, sondern Choreografien unendlich vieler aufeinander abgestimmter Bewegungen, ja Bewegungsprotokolle. Voilà, mit dem Fernbus einmal der Länge nach durch Deutschland.

7.50 Uhr. Ein jovialer, gut gelaunter Busfahrer hält zur Begrüßung eine Haarbürste in der Hand. „Was die Leute so vergessen.“ Wir steigen der Reihe nach ein in den grün-gelben Palmenbus. Wir: Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, osteuropäisch klingt die eine Familie, deutsch reden die beiden Outdoor-Klamottenträger, denen sicherlich die beiden Mountainbikes gehören, die der Bus sich auf den Rücken geschnallt hat. Ein Schwarzafrikaner spricht leise in sein Handy. Studenten nippen an einem dampfenden Kaffee, in der anderen Hand eine Zigarette. Kaum ist die eine Zigarette zu Ende, wird die nächste daran angezündet. Schon mal vorrauchen vor der 12-Stunden-Fahrt nach Berlin.

8.00 Uhr. Klimaanlage springt an, der Bus ruckelt, als die letzten Fahrgäste einsteigen, Schlagermusik singt leise aus den Boxen, die meisten telefonieren, der Bus ist zu knapp einem Viertel besetzt, als er losfährt.

8.03 Uhr. Limmat führt braunes Hochwasser, derweil eine Stimme vom Band die Begrüßung abspult. Das Radio läuft weiter. „Wir würden uns sehr erfreuen“, worüber, geht im Gedudel unter. Dann das Ganze noch auf einmal Englisch. Und ich überlege, wie man noch langsamer nach Berlin kommen könnte. Zu Fuß, per Fahrrad. Das nächste Mal

8.50 Uhr. In Konstanz steigt die Hälfte aus. Zwei Inder, Sikhs mit Turban, fragten beim Einsteigen in Zürich, wie das an der Grenze denn ablaufe, ob die reinkämen, sie aussteigen müssten. Der Bus fuhr aber durch, keine Passkontrolle. Mehrheitlich junge Leute steigen wieder ein, in allerletzter Minute rennen sieben Jugendliche gutgelaunt zum Bus, der Motor brummt schon, sie belegen wie früher auf Klassenfahrten die hinterstes Bank, öffnen das erste Bier, machen einen Drauf in Berlin, denke ich.

fähre bodensee-1

Fähre über den Bodensee

9.20 Uhr. Ein Asiate, leicht angegraute Schläfen, mit braunen Gehstöcken in beiden Händen, lehnt mit überkreuzten Beinen an der nächsten Haltestelle, geht humpelnd zum Gepäckfach, richtet sich wieder auf, geht weiter und schaut dem Bus nach.

9.30 Uhr. Die Fähre über den Bodensee braucht nur 15 Minuten. Wie Urlaub, ich breite die Hände gegen den Fahrtwind aus.

9.55 Uhr. An der Kirche in Meersburg steigt ein halbes Dutzend Rentner ein, sie haben den oberen Bodensee schon gar nicht mehr im Blick, über dem tief die Regenwolken hängen. Dann Reben, Obstplantagen, Spielzeugmuseum, ein Kampfsportstudio preist Wing Tsun an, vorbei an Fachwerkhäusern. Alles so idyllisch gelegen, es würgt, erst recht auf den grünen Wiesen mit ihren Einkaufsparadiesen, Campingplätze direkt am See, Biergarten, Minigolf, Gewächshäuser. Bauern ernten Äpfel, oder wer von ihnen ist Pole, Rumäne, aus der Ukraine? Seepromenade, Bodenseecenter, Seehotel Zeppelin, Sanatorium zum See, Hotel Traube. Provinzpoesie denke ich. „Sorglos dichte Keller“, wirbt ein Bauunternehmen. La Brassa Band hängt an einem Laternenpfahl, die verschlägt es hierher aufs Land? Gerüche nach Erdbeerjoghurt, ein Apfel kracht laut, kein Kaffeeduft zieht durch die Gänge. Das Radio ist still. Der Tag wird nur langsam hell, auch zwei Stunden nach Abfahrt ist der Himmel schwer grau.

10.25 Uhr. Friedrichshafen Bahnhof: Ärger mit einem Fahrgast, der bissig beharrlich nicht einsehen will, dass er sein Gepäck hinten verstauen muss und nicht mit hinein nehmen kann. Das wäre ihm telefonisch zugesagt worden. Er blitzt beim Busfahrer ab, der nur meint: Welcome back in Germany. Ein blond rasierter junger Mann steigt ein, brauner Stoffrucksack, nach hinten geklappte Sonnenbrille. Wieder zwei Teenager, von der Mutter in allerletzter Minute zum Bus gefahren. Liest da jemand in einem Buch mit dem Titel: Zen or the art to drive a bus?

30072014098

Reisecomfort?

10:27 Uhr. Nach Friedrichshafen meldet sich die Bandstimme wieder zuerst auf Deutsch und dann auf Englisch. Ein neues Wort: „Vertrauenskasse“, da hinein kommt das Geld für Snacks und Getränke.

10:34 Uhr. Erster Stau, wird der Bus die Ankunftszeit in Berlin halten können? Zähflüssiger Verkehr, der Tag ist noch immer nicht hell. Zwischen Plantagen und Bäumen immer wieder See. Statt Mais stehen Sonnenkollektoren auf den Feldern, liegen in Reih und Glied wie Menschen in Liegestühlen an einem überfüllten Cote-d’Azur-Strand, halten Gesichter in die Sonne. Plastikplanen über Gemüsebeeten am anderen Ufer. Wälder, Farn, feuchter dunkler Waldboden, den riecht man im Bus nicht. Apfelbaumspaliere, Mountainbikefahrer, Obstkistenkaskaden, Zwiebeltürme barocker Kirchen. Knappes Überholmanöver eines Motorradfahrers, der Bus bremst nur leicht.

10:53 Uhr. Autobahn. Autobahnkapelle. Schläfrigkeit. Ich greife zum zweiten Teil der Zeitung. Stockender Verkehr wegen Baustelle. Eine alte Holzbrücke über einem Fluss. Selbstbefragung: Höhepunkt der Reise? Schmerzender Rücken vom Sitzen? Komfort? Übelkeit vom Lesen? Mitreisende? Pünktlichkeit? Fahrweise?

11:32 Uhr. Bei der Ausfahrt Buxheimer Wald liegen schwarz-weiß gefleckte Kühe auf einer Wiese, ein BMW überholt rechts, draußen fällt leichter Regen, österreichische, tschechische Autonummern. Mitfahrende: Frau mit schwarzer Samtjacke, tief ausgeschnittenes schwarzes T-Shirt unter knallig orangefarbener Bluse im Mijake-Stil, Beutel in demselben Orange mit Esswaren, Regenmütze aus schwarzem Lack des Regens wegen nahm sie ab beim Einsteigen, geredet hat sie mit niemandem. Geschrieben immer wieder, was? Seltsame Erscheinung, passt nicht zu den anderen, wohin sie wohl fährt? Nassgrüne Felder, pralle Sonnenblumen, Raben auf einem Baum.

11:45 Uhr. Scheibenwischer ziehen zwei halbrunde Kreise, berühren sich nicht, gehen sich bei ihrer Kreisbewegung aus dem Weg, und im Scheitelpunkt prallen große Tropfen auf die Frontscheibe. Raubvögel sitzen auf Zaunpfosten und warten auf die von den Autos tot gefahrenen Opfer.

12:46 Uhr. Eingeschlafen, wieder aufgewacht vom steifen Nacken. Bus ist inzwischen fast voll.

30072014104

Wartende am ZOB München

 

12:50 Uhr. ZOB München, tiefdunkel der Busbahnhof. Die meisten Reisenden steigen aus, stehen Schlange vor dem Gepäckverschlag hinten im Bus. Auch die Jugendlichen aus Konstanz, also doch nicht Berlin.
Eine junge attraktive Frau in geblümtem Trägerkleid mit schwarzen Stiefeln, die Absätze schief getreten, rennt an den Bussen vorbei nach Paris, Prag, Pristina. Schwingt ihr langes volles Haar über die Schultern. Väter bringen ihre Töchter, Reisende steigen ein, die sich ähneln in Kleidung und Haltung. Ein Musiker mit Gitarre steigt zu.

13:45 Uhr. Maisfelder, Weizenfelder, Fenster-Türen-Fassaden auf einem blauen Kleinlaster, Pferde auf Koppeln, Hopfenstangen auf Feldern, wie Vs spießen sie den Himmel auf, und immer noch Zwiebeltürme. Auf unserer Spur geht’s voran, auf der anderen stehen sie. Baustelle.

14:51 Uhr: Berlin 491 Kilometer, das erste Mal angeschrieben, tschechische Nummernschilder häufen sich.

Was wird konsumiert? 1 Tageszeitung, 1 Thermoskanne Ingwer-Fencheltee als Prophylaxe gegen Reisekrankheit, 1 Flasche frisch gepressten Blutorangensaft, 1 Tüte Power Mix mit Sprossen unterschiedlichster Bohnen, 4 Kapitel aus Sebalds „Die Ringe des Saturn“, 2 Artikel aus der Zeitschrift Korea-Forum.

15:15 Uhr. Man sieht nichts, wenn man es nicht aufschreibt. Es wäre sonst nur eine reflexartige Aufnahme vorüberziehender Bilder, im nächsten Augenblick schon wieder vergessen.

15:42 Uhr. Unzählige Male schon diese Strecke nach Berlin gefahren, aber nun von oben sieht man die Täler, Dörfer und abgehalfterten Maienbäume deutlicher.

15:23 Uhr. Erotikmarkt mit Videokabinen, Berlin 343 km

31072014108

… und dann doch gekauft.

17:00 Uhr. Zweiter Fahrerwechsel, der erste war in München, Autohof Mönchberg. Fleischkäse lag traurig und einsam hinter beschlagener Scheibe, zweimal daran vorbeigegangen. Bis(s).

17:20 Uhr. Brücke der deutschen Einheit. Wie viele der Businsassen wissen, wie hier der Grenzzaun verlief, erinnern sich an die Kontrollposten, daran, dass man vorn die Pässe auf die Laufbänder legen musste, damit sie 20 Meter weiter geprüft wurden?

19:07 Uhr. Mich beim Einnicken ertappt. Es regnet, immer stärker, keine Sicht, dabei bin ich doch des Regens wegen in den Norden geflohen, kein Tröpfen trübte den Wettervorhersagehimmel.

19:12 Uhr. Nur noch flaches Land, so weit das Auge reicht, abgeerntete Weizenfelder, man sieht die Struktur noch der einstigen Landgenossenschaften, die großflächig dachten und anpflanzten. Windräder mit rotem Zyklopenauge, das rote Strumpfband heruntergerutscht auf Kniehöhe, drei Arme recken sie gegen den Blitzgewitterhimmel. Berlin 117 km. Elbe: kein Hochwasser, sandige Uferbänke.

20:05 Uhr. So düster, als ginge die Welt unter, als sei die Sonne dem Winter gewichen.

20:16 Uhr: Schnurgerade die Avus rein, bis der Funkturm aus dem Abenddunst auftaucht.

20:23 Uhr. Kaum zu glauben: mit drei Minuten Verspätung in Berlin eingetroffen. Hinein ins Sommergewitter.

Nachtrag: Im Sommer 2014 war der Fernbusmarkt noch heiß umkämpft, im November gaben die ersten auf. Die FAZ schreibt am 11.11.2014: „Endspurt um den Fernbusmarkt hat begonnen.“