Frag nicht!

6.8.2012, Zugreise in Burma

„Train, hello, hello, train“ klopft es an die Tür. Um drei Uhr morgens. Aufstehen wollten wir eine halbe Stunde später, der Zug geht erst um 4 Uhr, den Weg dorthin schaffen wir im Stockdunkeln in knapp zehn Minuten.

Menschen in Burma

Bahnhof in Burma

Schlaftrunken lassen wir uns in die durchgesessenen Sitze der Upper Class fallen, schauen uns um im dunklen Abteil. Zwei junge Frauen weichen dem Blick aus, drei junge Männer vertieft in ein Gespräch, weiter hinten ältere Reisende, die allein unterwegs sind, eine Frau im streng geschnittenen grünen Longy mit farblich darauf abgestimmter, hochgeschlossener Bluse. Das Schaukeln der Waggons schläfert ein, Augen fallen zu, die ausgefranste Morgendämmerung rattert vorüber, Schatten sieht man noch keine, Lichter von Frühaufstehern schon. Irgendwann gelingt es den Augen, länger geöffnet zu bleiben, die Lider klappen müdeschwer nicht sofort wieder zu, die grellgrünen Reisfelder blenden fast, obwohl die Sonne nicht scheint.

An jedem kleinen Bahnhof hält der Zug mit den vier Waggons, es verwundert daher nicht, dass der Zug für diese Strecke von Kyiangin nach Pathein im Südwesten Burmas zehn Stunden braucht, die ein Bus in der Hälfte der Zeit zurücklegen würde – wenn es denn eine Straße gäbe, die hier entlangführte. Nicht jeder Bahnhofsname steht in lateinischen Buchstaben angeschrieben; wie viele Kilometer man bereits zurückgelegt hat, fällt deshalb schwer abzuschätzen.

burma zug

Verkäuferin am Zug

Um 11 Uhr hält der Zug, steht ein wenig länger still. Nur wenige steigen aus. Die meisten bleiben sitzen und schauen einfach nur hinaus. Auch auf dem Bahnsteig wird gewartet, weiter hinten verkauft eine Frau Tee und Reisgerichte, Hühner laufen gackernd über die Bahngleise und zwischen den Wartenden hindurch, Ziegen knabbern an grünen Bündeln, von Frauen gestapelt, die noch mehr Grünzeug holen. Eine Mutter stillt ihren wohl dreijährigen Sohn, der darüber einschläft, wieder aufwacht, einen Klaps auf den Po bekommt, bis sich die Mutter schließlich zu ihm auf die schmale Bank legt, die weiß-rot-blau um einen Pfeiler herum gebaut wurde.

Eine Reiskuchenverkäuferin taucht auf, manche steigen aus, holen sich etwas zu trinken, zu essen. Im hinteren Wagen sitzt eine Sportmannschaft in dunkelblauen Trainingsanzügen der Universität Hinthada. Zwei junge Männer mit Umhängetaschen und in auffällig bedruckten T-Shirts verlassen den Bahnhof. Das Kind wacht auf und hat Hunger. Holt einen blauen Eimer aus dem Lastkorb der Mutter, stellt ihn vor sich hin, nimmt den Deckel ab. Die Mutter öffnet kleine Plastiktüten: eingelegtes Gemüse, Reis, getrocknete Papayafrucht, reicht eins nach dem anderen ihrem Sohn. Schließt den Eimer wieder, dieses Mal mit einer Schnur. Die zwei jungen Männer mit den Umhängetaschen kehren zurück. Mittlerweile ist es zwei Uhr.

burma - wartende

Warten in Burma

Die Lok wurde irgendwann abgekoppelt, die Wagen stehen einfach nur da auf den Gleisen vor dem Kleinstbahnhof. Wann es weitergeht? Mit Händen und Mimik gefragt. „Halp an hour“ antworten dunkle Gesichter und lachende Münder, antworten noch mehr in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Gehe hinaus, trete vor den Bahnhof, links und rechts der löchrigen Straße drei, vier Hütten, in einer wird Billard gespielt, in zwei anderen kann man Café trinken und Whisky, die vierte Hütte bietet eine kleine Auswahl an verschiedenen abgepackten Biskuits, gesüßtes Brot, Bier in Flaschen, burmesischen Energy Drink, Cola.

Ratlos wieder zurück zum Zug. Mutter und Sohn müssen sich den Platz nun mit einem Mann teilen, als der aufsteht, breitet sie sich wieder aus. Der Junge entfernt sich ein paar Schritte, zieht mit einer Hand die Hose herunter, mit der anderen das T-Shirt hoch und pinkelt auf den Trampelpfad, ein schöner, geschwungener Strahl. Die Studenten in den Trainingsanzügen schlendern auf dem Bahnsteig zwischen den kauernden Wartenden hindurch. Arbeiter mit einer Harke über der Schulter treffen sich und gehen einen matschigen Abhang hinunter, den zuvor ein Mädchen und ein Junge mit viel zu großen Fahrrädern hinaufgefahren sind.

Wann geht es weiter? Fragen wir zwei Stunden später. „Halp an hour.“ Mittlerweile ist es 4 Uhr, vor zwei Stunden hätten wir ankommen sollen, vor 12 Stunden sind wir aufgebrochen. Wir holen die Landkarte hervor, lassen uns den Ort zeigen, an dem wir uns gerade befinden. Auf der Karte ist keine Straße eingezeichnet, nur eine Eisenbahnlinie.

Als ein Mann offenbar mit Neuigkeiten zurückkehrt, die Gesichter sich erschrocken verziehen und laut gemurmelt wird, fragen wir mit einer Geste, die schlafen bedeuten soll, ob wir hier wohl im Zug übernachten müssen? Die Köpfe der beiden Männer wackeln hin und her, doch mehr erfahren wir nicht. Nicht den Grund, nicht die Uhrzeit, wann wir denn nun in Pathein ankommen würden. Ich spreche Menschen an, deren distinguiertes Aussehen die Hoffnung zulässt, dass sie Englisch sprechen könnten, gut gekleidet in vornehmen Longyis, in Hemden und Blusen. Nichts. Freundliches Kopfschütteln. Wieder im Bahnhofshäuschen: „Wann geht es weiter? Wir warten schon mehr als fünf Stunden“, und zeige auf die Uhr.

Tatsächlich. Alle vier Männer schauen das Ziffernblatt an, rechnen mit dem Finger nach, als würde ihnen erst jetzt aufgehen, dass der Zug schon so lange still steht. Ich frage nach dem Grund, man weist mir freundlich einen Platz zu, ich setze mich und denke, ohne Antwort gehe ich nicht wieder. Ich zeige auf das Telefon. Die Männer unterhalten sich; meint nicht einer, der andere mit weißem Hemd und blauer Hose – die Uniform der Bahnangestellten – soll anrufen? Die rufen hinaus, ein junger Mann mit vom Betel rotgefärbten Zähnen und schlampig gebundenem Longyi kommt herein, ich schaue ihn erwartungsvoll an, als die anderen mit einem Kopfnicken zu mir hinüberweisen. Er schaut durch mich hindurch. Sie reden und lachen. Über alles Mögliche, nicht aber über die fehlende Lok. Stehe auf und gehe zurück zum Waggon. Kehre auf dem Weg um und hole die vierte Biskuitpackung.

Fünf Uhr. Jetzt muss etwas geschehen. Sonst. Nochmals los, energischer dieses Mal, wann der Zug nun endlich weiterfährt, ein Grinsen, ein Blick auf die Uhr, das Telefon klingelt, ein Aufspringen. „Ten minutes.“ Kann es kaum glauben, gehe hinaus, trinke einen burmesischen Nescafé.

Mann im Hochwasser in Burma

Hochwasser in Burma

Als ich den Bahnhofsschuppen betrete, schauen alle Wartenden in dieselbe Richtung. Eine Lok. Der Raum mit den Bahnangestellten ist leer, erstaunliche Stille. Die Gesichter sind wie in all den Stunden zuvor gleichmütig. Eine Lok kann alles und nichts bedeuten. Der hintere Wagen wird mit Säcken beladen, die Ausgänge und Toiletten sind nun blockiert. Ein Ruck geht durch den ganzen Zug, als die Lok angekuppelt wird, dann noch einer, wir fahren. Winken all denen zu, die noch immer auf dem Bahnsteig warten, vielleicht sind es mittlerweile andere, die Mutter ist mit ihrem Jungen jedenfalls vor einer ganzen Weile gegangen.

Das Dorf, aus dem wir fahren, versinkt im Wasser, ein Ochsenkarren im Reisfeld, dahinter ein Bauer bis zur Hüfte im Wasser.

Die Stelzen der Häuser ragen nur zur Hälfte heraus, zuvor gackerten hier Hühner. Der Zug hält am nächsten Bahnhof, verdächtig lange, nimmt nur langsam wieder Fahrt auf, war die Lok das Problem? Um uns die Welt in Wasser versunken, Dächer von Häusern hier und da, Baumkronen schauen vereinzelt heraus, Strommasten liegen abgeknickt im Wasser, die Leitungen schleifen auf den kleinen braunen Wellen, die bis an den Bahndamm klatschen, ihn unterspülen, aushöhlen? Der Zug hält, die Säcke werden ausgeladen, damit der Damm befestigt werden kann, an einer Stelle nur, die Wasserfläche dehnt sich bis in Unendliche.

Burma Hochwasser

Rikscha im Hochwasser

Eine goldene Stupa steht erhöht auf einem kleinen Hügel, einzelne Vögel am grau verhangenen Himmel, nur das Zischen der Lok, die Waggons schwanken bedenklich hin und her, der Zug schiebt sich wie ein dampfender Koloss durchs Meer, das immer dunkler wird, der Abend bricht unvermittelt herein, kaum noch ist der Mann zu erkennen, der neben dem Bahndamm steht, ganz in sein graues Regencape gehüllt, das ihn verschluckt.

Er schwenkt eine grüne Fahne – um die Durchfahrt freizugeben? In den Abteilen ist es still, alle starren hinaus, halten den Atem an.

Ob der Bahndamm hält? Irgendwann fährt der Zug schneller, dunkle Schatten ziehen vorüber, hat sich die Welt wieder verfestigt? Hütten leuchten auf, Lichter brennen an Bahnhöfen, wann kommt die Endstation? Noch zwei, drei Bahnhöfe, noch einer.

Mit steifen Gliedern steigen wir aus, es regnet, regnet in Strömen. Im Dunkeln finden wir den Weg nicht. Nehmen eine Fahrradrikscha, die fährt und fährt und fährt, durchquert Seen auf Straßen, kann Pfützen nicht ausweichen, so groß sind sie, und alles ist nass, überschwemmt. Manchmal steht eine Silhouette ratlos vor dem Wasser. Die Läden sind mit Brettern zugenagelt. Eine Geisterstadt, unwirklich, am Ende der Welt angelangt.